Es gibt ein Deutschland in Deutschland. Das keiner mehr kennt, aber es heißt auch Deutschland. Das hat den Krieg verloren und alle seine Juden vertrieben oder umgebracht. Aus dieser Zeit lebt nur noch ein kleiner Teil und die Täter sind tot. Darum kennen wir die Geschehnisse meist nur noch aus Büchern und Erzählungen, aber bei weitem nicht alle Deutschen. Eben nur ein kleiner Teil, ein Deutschland im Deutschland.
Zu diesem Teil zählen die deutschen Juden. Bei dieser Bezeichnung habe ich etwas gezögert, denn man könnte auch sagen, Juden oder jüdische Deutsche oder Deutsche. Ich habe auch gezögert, weil sich nicht alle Juden als Deutsche fühlen, jedenfalls nicht ausschliesslich. Einige fühlen sich nur als Juden, andere eher als Juden und Deutsche, wiederum andere als Deutsche und Israelis und ganz wenige als nur Deutsche. Es kommen zudem nur die wenigsten Juden aus Deutschland. Nach dem Holocaust waren von den 500.000 Juden nur noch 25.000 übriggeblieben und der Großteil der jetzt über 100.000 Juden wanderte ein, überwiegend aus der ehemaligen Sowjetunion.
In der Öffentlichkeit sind die Juden viel stärker vertreten, als das ihr Anteil von 0,2 Prozent vermuten lässt. Das liegt natürlich in der Stellung, begründet, die der deutsche Staat ihnen einräumt. Der Zentralrat der Juden hat das gleiche Gewicht in der Politik wie die evangelische oder katholische Kirche, obwohl er keine Kirche ist, ja er rangiert vor dem Zentralrat der Muslime, obwohl dieser mit 5 Prozent ein Vielfaches an Bevölkerungsanteil repräsentiert (die Juden nur 5 Prozent von deren 5 Prozent!).
Das große Gewicht in der Öffentlichkeit liegt in dem Selbstverständnis der Juden begründet. Wer so großes Leid erfahren hat, will auf jeden Fall die Erinnerung daran hochhalten und erreichen, daß das nie wieder passiert. Also geht er vor allem in die Öffentlichkeit, wenn Gefahr in dieser Richtung droht. Außerdem fühlen sich die Juden als auserwähltes Volk auch über alle anderen hervorgehoben und erbringen in diesem Bewußtsein auch herausragende Leistungen. Wann immer ich bei bedeutenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in ihren Lebenslauf nachgeschaut habe, eine erstaunlich große Zahl waren Juden oder Menschen mit jüdischen Wurzeln.
Das jüdische Selbstbewußtsein ist deshalb auch gleichzeitig Ballast. Denn es trennt von den Nationen, in denen Juden beheimatet sind. Sie sind nicht wirklich integriert. Denn sie sind in erster Linie nicht Deutsche oder Amerikaner, sondern Juden, die in Deutschland oder Amerika leben. Sie sind nicht einfach deutscher Katholik oder amerikanischer Protestant, sondern erst Jude und dann deutscher Jude und erst dann Deutscher. Israel geht sogar so weit, daß jeder Jude auf der Welt auch Israeli werden kann. Das ist so, als ob Deutschland jeden Katholiken auf der Welt als Deutschen ansieht oder die Türkei jeden Muslim.
Jeder Jude kann sich auch als Israeli fühlen kann und ein großer Teil tut es auch. Darum ist es bezeichnend, daß sich so viele deutsche Juden eher mit Israel als mit Deutschland identifizieren. Die große Mehrzahl derjenigen, die positiv über Israel schreiben oder sein Verhalten verteidigen, sind Juden. Auch wenn Israel Menschenrechte verletzt.
Hier kommen wir zu erstaunlichen Ergebnissen: Juden und Deutsche haben unterschiedliche Lehren aus dem Holocaust gezogen. Die Deutschen: Du darfst nie mehr unterdrücken. Die Juden: Du darfst nie mehr unterdrückt werden, auch wenn du dafür unterdrücken mußt. Was die Deutschen also gelernt haben, ist unteilbares Menschenrecht. Für die Juden aber ist Menschenrecht teilbar.
In Wirklichkeit ist das natürlich noch komplizierter: Für die Juden ist das Menschenrecht natürlich nicht teilbar. Da sie sich von den Palästinensern angegriffen fühlen, handeln sie in Notwehr. Und Töten und sich Wehren ist in diesem Fall vom Menschenrecht abgedeckt.
Die Deutschen haben damals für den Holocaust ja auch eine Notwehrsituation konstruiert. Die Juden zersetzen das deutsche Volk und streben die Weltherrschaft an. Darum müssen sich die Deutschen für die schwere Aufgabe, alle Juden zu vernichten, „opfern“.
Unter diesem Aspekt ist es nicht verwunderlich, wenn Wolf Biermann, Henryk Broder und die meisten Juden, Israel verteidigen. Aus deutscher Sicht (und so ziemlich der ganzen Welt) ist das falsch, da Israel die Verteidigungslinie längst verlassen hat und die Palästinenser unterdrückt, statt ihnen wie gefordert ihren eigenen Staat zu geben.
Deutsche Juden haben deshalb ein Problem in Deutschland, weil sie den Antisemitismus Deutschlands als Unrecht anprangern, den Zionismus der Israelis aber nicht. Sie haben sogar ein noch größeres Problem, weil sie die Kritik an Israel als antisemitisch anprangern, weil keiner die besondere Lage der Israelis anerkennen würde. Und das Problem wird nicht kleiner, wenn die Deutschen den deutschen Juden unterstellen, sie würden die Menschenrechtsverletzungen genau sehen, aber nicht zugeben. Denn wenn sie das täten, dürften sie auch den Antisemitimus der Deutschen nicht mehr kritisieren, müßten sie doch gleichzeitig auch den Zionismus in Israel kritisieren.
So beißt sich die Katze in den Schwanz.
Die Deutschen sollten deshalb zur Tagesordnung übergehen. Einmal sollten sie sich nicht durch Kritik beirren lassen. Zum zweiten sollten sie die deutschen Juden als Deutsche behandeln und das Jüdische ignorieren, so wie sie es mit den Protestanten und Katholiken tun und bei den Muslimen tun wollen, damit letztere besser integriert werden.
Vielleicht werden die deutschen Juden dann irgendwann mal in der deutschen Wirklichkeit ankommen und normal werden. Dann könnten wir auch die Polizei von den Synagogen abziehen, die Moscheen werden ja auch nicht geschützt.
P.S. der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignaz Bubis, ließ sich in Israel beerdigen. Sein Nachfolger, Paul Spiegel, sagte, auf das Unrecht Israels angesprochen „dazu sage ich nichts, Israel ist meine Lebensversicherung“.