Montag, 15. März 2010

Die Kirche, die Odenwaldschule und wir

Nach einer Vielzahl bekanntgewordener Pädophilenfälle kam unsere Nachbarin zu uns und verkündete, jetzt hat die evangelische Kirche auch ihren Mißbrauchsskandal. Sie ist katholisch und tief getroffen und das geteilte Leid verschaffte ihr sichtlich Erleichterung. Zu sehr aufgewühlt sind die deutschen Katholiken über pädophile Priester in ihrer heiligsten Institution, die vielfach noch vor ihrer Familie kommt. Da ist einerseits Abwehr und Abwiegeln völlig verständlich, andererseits aber auch die Wut über die schwarzen Schafe in eigenen Reihen.

So ist es auch mit der Odenwaldschule. Die Ehemaligen strotzen vor Stolz, diese Eliteschule besucht zu haben. Ich weiß es, denn ich ging ins Nachbarinternat und fühlte mich noch besser, da wir in der Odenwaldschule einen Ableger unseres Gründers Hermann Lietz sahen, so wie Salem auch. Wir hatten zwar keinen Daniel Cohn-Bendit, aber wir hatten einen Wernher von Braun, womit der Qualitätsunterschied geklärt war.

Ich könnte auch zwei Geschichten erzählen, wie Amelie Fried, aber anders. Die erste war, daß ich äußerst ungern ins Internat ging, da ich mich in einer Vielzahl von Kindern aus kaputten Elternhäusern wiederfand, die Schule scheisse fanden. Aber meine englische Mutter hatte nun mal ihre eigene Vorstellung von guter Erziehung und so durfte ich vier lange Jahre in den sechziger Jahren auf Schloss Bieberstein verbringen, die enorm prägend waren – auch positiv.

Als ich zehn Jahre später zum ersten Mal wieder hinfuhr, also in der Zeit der Amelie Fried, war ich entsetzt über die Disziplinlosigkeit der Schüler und Lehrer, über den offenen Umgang mit Hasch, Alkohol und Sex auf den Zimmern, was zu meiner Zeit völlig undenkbar war. Alkohol und Sex kamen vor, aber wer dabei erwischt wurde, flog von der Schule. Auch die Problematik mit Schülerinnen, die durch alle Betten gingen und auch vor Lehrern nicht haltmachten, hatten wir nicht, wir waren eine reine Jungenschule. Das wurde bei meinem Besuch 10 Jahre später aber erfreulich offen vom Leiter diskutiert. Er fügte hinzu, das würde nicht sehr honoriert und die betreffenden Mädchen würden schließlich damit aufhören. Zu meiner Zeit mußten wir noch zwanzig Kilometer zur Schwesterschule Hohenwehrda fahren, um Freundinnen zu treffen.

Homosexualität auf unserer Schule gab es nicht, war mir jedenfalls nicht bekannt. Im Gegenteil, Homosexualität war extrem tabuisiert und schwule Mitschüler wären sofort stigmatisiert worden, so wie unsere persischen Mitschüler, die homosexuelle Kontakte normal fanden und deshalb die Schule sofort verlassen mußten. Undenkbar auch, daß Lehrer mit Schülern geduscht hätten. Insofern bin ich bei den Schilderungen aus der Odenwaldschule froh, die Gnade der frühen Geburt zu haben. Unsere Lehrer waren bis auf wenige alle verheiratet, mit Kindern, also richtige „Familienväter“, die offensichtlich genügend Befriedigung in der eigenen Familie fanden.

Mit Blick auf die Odenwaldschule muß ich sagen, daß ich Glück gehabt habe – oder unsere Schule. Denn wie schnell die durch schlechtes Führungspersonal (wie jede andere Institution) in eine bestimmte Richtung gehen oder abrutschen kann, ist dort zu studieren.
Ich kann noch nicht einmal beurteilen, ob die Odenwaldschule in dieser Zeit abgerutscht ist, denn Amelie Fried fühlte sich nicht beschädigt, im Gegenteil, sie ist wie die meisten, die ich kenne, stolz auf die Zeit, die sie dort verbracht hat. Es kann also durchaus sein, daß der Leiter Gerold Becker in seiner Gesamtleistung hervorragend war, so wie sein Freund Bernhard Bueb, so wie auch die Leistung seines Freundes Hartmut von Hentig, auch wenn man etwas Gänsehaut bekommt, je näher man Pädophilie und Pädagogik zusammenrücken sieht. Aber ist unsere heutige Gesellschaft überhaupt in der Lage, das objektiv zu beurteilen? Im alten Griechenland war die „Hand unter der Decke“ die Regel und vieles weit darüber hinaus. Waren da die Knaben für ihr Leben geschädigt, diese Frage wird wohl kein Altphilologe von heute bejahen. Gleichzeitig aber wird es heute kaum einen Altphilologen geben, der deshalb die Pädophilie bejaht. Man mag die altgriechische Art ablehnen, aber muß dann unsere gegenteilige Sexualauffassung die einzig richtige, ja einzig erlaubte sein? Vor 2000 Jahren galt Pädophilie noch als vollkommen gesund, wieso kann sie dann heute als vollkommen krank und gemeingefährlich gelten? Amelie Fried versteigt sich sogar dazu, ihren ehemaligen Leiter als Verbrecher zu bezeichnen. Darin kann man vor allem ihren Schmerz ableiten, als Schülerin eines Vorzeigeinternats nun von allen stigmatisiert zu werden. Aber will sie keinen Unterschied zwischen sexuellen Handlungen und Totschlag machen? Was nutzt die beste Aufklärung in sexueller Freiheit, wenn sie nur die eigene meint, aber abweichende Auffassungen nicht gelten läßt? Ist das nicht auch eine grandiose Lebenslüge, wenn wir meinen, den sexuellen Muff der Talare der Eltern endlich hinter uns gelassen zu haben? Wenn ich sehe, wie wenig sich unsere Gesellschaft mit Abweichungen von der Norm beschäftigen will, dann müßte man eher antworten, daß unsere Eltern in vielen Dingen doch gelassener waren.

Im Augenblick ist die bundesdeutsche Befindlichkeit völlig von der Rolle. In jeder Institution, in jeder Stadt werden Pranger feilgehalten, an denen die Übeltäter festgenagelt werden. Da gehen die Hinweise eines Josef Haslingers auf seine pädophilen Seelsorger völlig unter, daß diese in der Regel liebevolle und feinfühlige Menschen waren. Damit kann die Gesellschaft nicht umgehen und redet völlig hektisch durcheinander. Da wird das Lebenswerk von Menschen zerrissen wie seinerzeit Oskar Wilde, als seine Homosexualität bekannt wurde. Da wird der Rücktritt des Papstes gefordert, als ob er selbst schon pädophil wäre. Da wird ein rigoroser Opferschutz mit Strafverschärfung und Aufhebung sämtlicher Verjährungsfristen gefordert. Aber mit den Tätern beschäftigt sich keiner. Kein Verstehen, überhaupt kein Gedanke daran. Wenn sie denn wirklich krank sind, warum hilft ihnen keiner, warum wird ihnen medizinische Hilfe verweigert. Da sind wir so stolz auf unsere neurologischen Fortschritte, auf unsere Paralympics mit Behinderten, aber Kinderschänder dürfen nicht mitspielen.