Sonntag, 25. Juli 2010

Sylt ist mir lieb – und teuer!

Schon die Ankunft in Niebüll noch auf dem Festland ist abenteuerlich. Wie vor Mailand fährt man durch riesige Mautschranken, zieht umständlich Plastikkärtchen, um sie dann in einem weiteren Automaten wieder loszuwerden, um dann auf einem komfortablen Reisezug möglichst auf der oberen Ebene zu parken. So sieht man die vielen Windräder, die Marschwiesen, das Watt mit seinen Wasservögeln, den befestigten Deich, auf dem der Zug zur Insel fährt und die Landgewinnungsbemühungen entlang des Deichs für eine fernere Zukunft, in der wie auf der Schwesterinsel Römö endlich eine Straße nach Sylt führen soll – aber dann ist der Reiz des Exklusiven weg, sagen die Syltabhängigen. Hat man das Wattenmeer dann hinter sich, führt die Zugfahrt nach Sylt hinein durch langweilige Wiesen in eine häßliche Stadt namens Westerland und Sylt, das Sylt, was Sylt ausmacht, wovon alle sprechen, ist noch nicht zu sehen.

Erst in Kampen sieht man auf einmal Häuser mit spitzen Giebeln, reetgedeckt. So weit das Auge blickt, Reetdächer und Spitzgiebel – entweder backsteinrot oder weißverputzt. Eine putzige Ansammlung von Häusern. Sie wachsen wie Pilze aus der moorigen Heide, die Erdscholle noch auf dem Kopf. Kein Haus ist unter einer Mio. Euro zu haben, der Durchschnitt kostet zwei. Die Architektur ist den Friesenbauernhäusern des 17. Jahrhunderts entlehnt. Zuerst denkt man, hier haben die Schlümpfe ihr Zuhause, aber dann sieht man das nördliche Spiegelbild trachtenverliebter Bayernbesucher. So wie Stoiber herumläuft, so aufgemotzt sind die Syltkaten. Sprossenfenster, Barocktüren und Schiffsbojen, weiße Holzzäune und alle Häuser - aber auch alle - mit dem berühmten hüfthohen Steinwall umzogen. Lose runde Feldsteine werden von einer Grasnabe mit Heckenrosen bedeckt. So sieht ein Haus aus wie das andere. Hier wohnt der Geldadel aus Hamburg und aus dem Ruhrgebiet. Für sie zählt nur Kampen. Kampen ist Sylt. Sylt ist Kampen. Hier schlagen auch wir in der Nähe der Whisky-Meile unser Quartier auf. Whisky-Meile, das ist diese kurze Strasse in der gedachten Mitte Kampens mit ein paar Schickimicki-Lädchen, vor allem aber dem Go-Gärtchen und dem Pony. Im Go-Gärtchen wird man von dem ewig unter Strom stehenden Rolf Seiche begrüßt, im Lodenjanker, wie sich das gehört, da paßt zusammen, was zusammenpasst. Rolf ist im Augenblick trocken, nur weiß man nicht, ob er trocken sympathischer ist als der angefeuchtete. Und in Kürze hat man den 30 Euro Prinz of Wales auf Champagnerbasis inkl. Zinnbecher in der Hand und eine ganze Reihe weiblicher Gesprächspartner um die 40. Alle ähnlich wie ich keine Schönheiten, aber nett anzusehen. Und wenn man sich Mühe gibt, endet das Gespräch im frivolen Smalltalk. Das ist ja auch das Wichtigste. Alle signalisieren, ich könnte, aber lassen es dann auch dabei bewenden. Allein das Gefühl, miteinander ins Bett gestiegen zu sein, wenn man sich denn wirklich die Zeit dafür nehmen würde, reicht. Da schreibt man sich lieber die Handy-Nummer auf, um keine Zeit zu verlieren, die nächste Handy-Nummer einzusammeln oder auch es ganz zu lassen, ist ja nicht soo wichtig. Wenn man will, kann man die Dame seines augenblicklichen Herzens die paar Schritte mit rübernehmen ins Pony, die Muß-Diskothek der Insel, oder das auch lassen und allein rüberstreunen. Mal auf die Tanzfläche schauen, was sich da lustvoll räkelt, schauen, ob da was für einen dabei ist und eventuell bleiben, tanzend oder sitzend, talkend oder am Glas nippend. Das ist die Whisky-Meile. Das Schöne ist, man sieht alle am nächsten Tag an Buhne 16 wieder. In Strandklamotten, barbusig oder nackt.
Die Buhne 16 ist ein Strandabschnitt nördlich von Kampen, wo früher konsequent nackt gebadet wurde. Heute ist das nicht mehr wichtig, jeder so wie er will. Wir wollen aber weniger Strandkorb, sondern mehr Strandbude, diese Holzterrasse an den Dünen, wo sich wiederum alle auf den harten Holzbänken treffen, um ihren Weißwein für 25 Euro zu schlürfen. Alles ist einfach und rustikal, bis auf die Preise, die sind etwas gehobener. Dafür sind die Gespräche netter. Wer auf keinen Fall allein ins Bett will, sollte hier mit seinem Smalltalk anfangen und das Go-Gärtchen zugunsten eines Spätnachmittagschläfchens sausen lassen. Wir machen nichts von alledem, wir trinken eine Flasche mehr und erhöhen die Schlagzahl unserer Smalltalks. Nirgendwo war die Doppelkopfrunde besser als hier – und die Weiber haben beim Abschied Tränen in den Augen, halb und halb.

Will man einen beschaulicheren Tag haben, geht man am späten Vormittag in die Strandsauna. Mein Lieblingsplatz auf der Insel. Im weißen Dünensand liegt hingestreckt eine Ansammlung von Blockhütten und dahinter ein kleiner Sonnenliegeplatz mit Strandkörben. Hier streut man ein paar Wildrosenblätter in sein kaltes Weißweinglas und hält es genussvoll gegen die Sonne, bevor man trinkt. Geschwitzt wird leise, geredet nur flüsternd, das Lauteste ist die Zeitung beim Umblättern. Und nackt ist jeder und alles normal. Das Frivole spielt sich im Hintergrund des Universums ab, welches seine Wellen zurück auf die Erde strahlt. Du fühlst dich einfach wohl, feel well, wellness, Wohligsein. Nach dem Saunagang unter die große kalte Dusche auf dem Saunavorplatz, wo dich jeder sieht, aber durch eine Holzwand verdeckt. Und danach geht es über die Dünen ins Meer, in diesen wunderbaren Ozean, der dir Deine Gefühle abwäscht und sie gleichzeitig wieder neu weckt. Und danach legst du dich einfach in den Sand, auf dein Laken und lässt dich von Sonne und Wind bestreichen. Herrenloses Strandgut. Dir gehört keiner, du gehörst keinem, dir gehört die Welt, du gehörst der Welt.

Aber Kampen ist nicht Sylt und Sylt ist nicht Kampen. Der nächste Ort heißt Keitum, und das ist das eigentliche und älteste Dorf der Insel. Auf der Leeseite am Watt gelegen, taucht man in eine ganz andere Welt. Das Reizklima der Nordsee mit seinen Dünenstränden ist weg und man taucht in eine stille beschauliche Landschaft von schönen Häusern unter hohen Ulmen, kleinen Straßen und schönen Ausblicken auf das anthrazitfarbene Wattenmeer. Was auf Kampen etwas aufgesetzt aussieht, nimmt man hier als authentisch wahr. Kampen ist der neueste 735er BMW mit Goldspoilern, Keitum ist das englischgrüne Jaguarmodell aus dem vorigen Jahrhundert. Wer Keitum liebt, geht nicht mehr nach Kampen. Umgekehrt ist es genauso, man mischt sich nicht, es sind zwei Welten, aber beide sprechen von Sylt. Keitum hat Kampen aber etwas voraus, was Kampen nicht hat, die Keitumer Kirche. Auf einem kleinen Hügel stehend ragt sie weiß mit einem hohen Backsteinturm aus grünen Wiesen heraus, mit einer dickrunden wehrhaften Apsis und anliegendem stillen Friedhof. Wer in die Kirche eintaucht, der ist im Norden angekommen. In der Welt Dänemarks und der Welt der Friesen und Wikinger. Hier spürt man noch etwas vom ausgestorbenen Volk der Seefahrer und Walfänger. Hier treffen sich Heilige und Seeungeheuer und lassen die Gläubigen erschauern. So wie Pastor Giesen mit seinen berühmten Sonntagsreden, die auch im Internet nachgelesen werden können. Ich gehe jeden Sonntag zu Pastor Giesen, sagte mir eine 50jährige dunkelbraunattraktive Bayerin und ich verliebte mich auf der Stelle in sie.
In Römö und Morsum steht das Pendant zur Keitumer Kirche, aber nur Römö kommt an sie ran.

Kampener und Keitumer treffen sich jedoch häufiger ohne sich dabei etwas zu denken, in List, bei Gosch. Gosch ist die nördlichste Fischbude der Welt und die erfolgreichste. Hier brummt der Bär. Wie auf einem Jahrmarkt kann man dort an Ständen Fisch verzehren, auf Holzbänken sitzend oder vornehmer im Restaurant speisend. Gosch ist keine Fischbude, Gosch ist eine Welt für sich, ein Dorf im Dorf und nicht umsonst wird schon mal das Ortsschild von List in Gosch-City umgetauscht. Wie Rolf Seiche hat sich Jürgen Gosch hochgearbeitet, vom Krabbenpuhler zum Millionär sozusagen, nur wesentlich erfolgreicher und eine kleine Anekdote beleuchtet die Hassliebe der beiden Selfmademen am besten, wo Rolf Seiche den besoffenen Jürgen Gosch beschimpft. Du mit deinen Millionen, du kleines Licht, und Jürgen Gosch erwidert dem stets klammen Rolf im höhnisch säuselnden Norddeutsch, willste eine abhaben?
Wer morgens früh keine Lust auf Eierkochen hat, der geht zum Frühstück in die Kupferkanne. Wir gehen zu Manne Pahl, dieses Kampener Eckhaus mit großzügiger Veranda. Eigentlich liegt es ganz schamlos an einer großen Kreuzung. Aber die hat den Charme, den ganz Kampen hat. Man sieht alle wichtigen Luxuskarossen, die vorbeifahren, und man wird gesehen. Gutaussehende freundliche Studentinnen in langen weißen Schürzen bringen Assam-Tee und ein Glas Orangensaft, Krabbenbrot mit Rührei und ein Croissant mit Butter und Orangenmarmelade. Wer vorher einen schweren Kopf hatte, dem ist er nach dem Frühstück wie weggeblasen, und aufs Neue kann man mit einer Welt am Sonntag und einer Flasche Pommery zur Buhne 16 aufbrechen. Wo sind all die Weiber von gestern? Ein Teil ist nicht mehr da, wird aber gottseidank durch Neue aufgefüllt! Das Leben geht weiter, mein Haus, mein Auto, mein Boot, meine Firma, meine Datscha, meine Kinder, mein Hund, mein Pferd, mein Handycap. Apropos, haben Sie Lust, heute Nachmittag? Wir haben den Platz für 18 Löcher gebucht. Sie können auch so mitlaufen, den Ball aus dem Wasser fischen, was aber nicht so häufig vorkommt. Nichts ist beschaulicher, als eine Runde über das schöne Grün zu laufen, die Fairways, die Landschaft, alles. Und nebenher wird man auch noch braun im Gesicht, das reicht doch, oder?

Danach, heute abend, sind wir bei Herbert, in der Sansibar. Sansibar ist ein Muß in der Gastronomie der Insel. Tief im Süden dieser sich wie ein Fadenwurm hinziehenden Insel liegt tief in den Dünen ein Holzrestaurant, auf Stelzen, meint man fast, aber das liegt an der diesen großen Holzbungalow umgebenden Terrasse. 365 Tage im Jahr ist dieses Lokal ausverkauft und das liegt am Wirt Herbert. Mit unbändigem Charme hat dieser dicke Schwabe das Lokal zu dem gemacht, was es ist, ein Fresstempel für Fisch aller Art, mit einem riesigen Weinkeller, den man in diesem Dünensand gar nicht vermuten würde. Aber er ist da. Und diese Freß- und Sauferotik geht unmittelbar auf die Gäste über, die selbst anfangen vor Freß- und Sauflust zu vibrieren, in Erwartung, dass sich das Dritte hinterher einstellen möge. Einen kleinen Vorgeschmack kriegt man davon schon auf der Herrentoilette, mit Bildern von entblößten Frauenhintern und steifen Penissen a la Horst Janssen und Co. Nach einem Pils für Arme - das ist ein warmer Birnenschnaps mit Sahnehäubchen im Minipilsglas, eigens von Deda erfunden - geht es wieder zurück auf die Whiskymeile.

Aber irgendwann muß ich noch meinen Flieger kriegen, sagt der geübte Syltfahrer, muß halt sein, aber wir kommen ja wieder. Nächstes Jahr, sind wir wieder dabei.