Wenn wir einen Blick auf die Integration in Deutschland tun, sollten wir das soweit wie möglich frei und unbefangen tun.
Ein frommer Wunsch, denn wir alle sind in unseren Vorurteilen verhaftet. Darum sollten wir neben unserer Meinung auch die anderen hören und berücksichtigen, ohne sie gleich als rechtsradikal oder linksradikal, naiv oder rassistisch zu verteufeln. Vielleicht können wir uns darauf verständigen, alle Verallgemeinerungen ausschließen wie: alle Türken sind integrationswillig oder Islamisten. Oder alle Deutschen sind ausländerfeindlich oder nur fremdenfreundlich.
Dazwischen ist eine Menge Platz. Und jeder von uns ist inzwischen ein wenig verwirrt, wie wir uns um die Deutungshoheit dieses Gestaltungsraums streiten. Wir: das sind die Deutschen und die Türken. Alle, die in unserer Gesellschaft etwas zu sagen haben, haben das ganze Spektrum dazu belegt: die Politik, die Gewerkschaften, die Kirche, die Intellektuellen, die Medien, das Proletariat, sicher habe ich einige vergessen.
Und auf Seiten der Türken haben ebenso viele was zu sagen, obwohl wir auch unter ihrem Schweigen leiden. Die Integrierten, die Nichtintegrierten, die Gläubigen und die Atheisten, die Sunniten, die Aleviten, die Kurden und die Atheisten. Und schließlich der Zentralrat der Muslime, die Ditib und Milli Görüs.
Wer soviel Meinungen zu berücksichtigen hat, kann sich kaum allgemein äußern ohne von einer der Gruppen Widerspruch zu ernten. Jede kann ihn widerlegen, indem sie auf andere Sachverhalte hinweist, die auch richtig sind.
Insofern versuchen viele, sich mit Hilfe von Statistiken ein generelles Bild zu machen, um wenigstens eine Richtung zu bestimmen. Aber auch da stellen wir fest, daß Statistiken nicht immer verläßlich sind. Zu häufig werden sie von denen geschönt, die mit ihnen ihre These vertreten wollen. Und zu häufig werden sie von denen widerlegt, die damit auch ihre These belegen wollen.
Darum fange ich einfach mit Beispielen an, zuerst mit den türkischen:
Ich unterhielt mich mit der Tochter des türkischen Botschafters über die Zunahme von Kopftüchern in Deutschland und sie beruhigte mich, ach, das wächst sich aus. Aber sie und ich, wir haben uns geirrt, es hat zugenommen.
Ein türkischer Mitarbeiter von mir, in gehobener Position, in Deutschland geboren, heiratete eine Türkin aus dem Heimatland und verbot ihr, deutsch zu sprechen. Sie trägt Kopftuch. Sie haben vier Kinder.
Ein türkischer Bekannter setzt sich für die Integration und den Dialog der Türken mit den Deutschen ein. Er ist Anhänger von Fetullah Gülen und glaubt, daß Atatürk die Türkei um 70 Jahre zurückgeworfen hat. Über Necla Kelek will er nicht nachdenken.
Jetzt die deutschen:
Anfangs in den Siebzigern wurden die türkischen Gastarbeiter in Lagern in der Nähe der Fabriken gehalten, wo sie arbeiteten. Als sie hier dann unbefristet wohnen durften, sah ich an vielen Kneipen, daß Türken keinen Zutritt haben. Und von Banken wußte ich, daß sie den Türken Kredite mit doppelt so hohem Zinssatz verkauften wie Deutschen. Erstaunlich, daß sich da keiner gerührt hat.
Auch heute wollen die Deutschen immer noch keinen Türken in ihrer Nachbarschaft haben. Eine Soziologin beschrieb das wie folgt: Als Kölner in der Philharmonie ein Konzert mit zwei türkischen Pianistinnen gab, kam kein Türke. Als die Türken dort ein Konzert veranstalteten, kam kein Deutscher.
In keiner deutschen Schule wird Türkisch für Deutsche gelehrt, dafür aber Russisch und Japanisch. Und in keiner Buchhandlung gibt es auf dem Wühltisch Türkisch für Anfänger, dafür aber Spanisch und Italienisch für Anfänger.
Wir sind der Ansicht, die Türken sollten erstmal vernünftig Deutsch lernen, haben aber keine Lust, sie in ihrer Muttersprache, also richtig zu verstehen. Darum gibt es weder Erdkunde, Geschichte oder Politik zur Türkei. Und das, obwohl sie mit 3 Millionen die größte Minderheit in Deutschland stellen. Dumm, nicht wahr?
Wir sollten also schon mal anfangen, uns wenigstens füreinander zu interessieren.