von Fatih Akin
GEGEN DIE WAND zeigt einen türkischen Mann (Cahit) aus Hamburg, der vermutlich auch wegen des Todes seiner Frau saufend, hurend und prügelnd durch die Kneipen zieht. Weil die Selbstvernichtung nicht schnell genug geht, fährt er mit dem Auto gegen eine Wand. Der Zuschauer würde ihn für einen heruntergekommenen Deutschen halten, denn nichts Türkisches ist mehr an ihm. Im Krankenhaus spricht ihn eine junge Türkin (Sibel) an. Der einzige Weg, ihrem engen Elternhaus zu entkommen, war für sie der Selbstmord, nur missglückte das Pulsaderaufschneiden. Jetzt sieht sie einen besseren Weg. Wenn sie diesen Türken zum Schein heiratet, kommt sie endlich in die ersehnte Freiheit. Sie will „ficken, ficken ficken“, in Diskos gehen und tanzen. Und das tut sie dann auch, ihr Ehemann hat nichts dagegen. Bis er sich in sie verliebt und sie sich in ihn. Er erschlägt im Zorn einen Mann und kommt wegen Totschlags ins Gefängnis. Sie wird von ihrer Familie verstoßen und flüchtet in die Türkei. Dort will sie auf ihren Mann warten. Aber ein geordnetes Arbeitsleben wie das ihrer Cousine möchte sie nicht haben, sondern ihr Lotterleben fortsetzen. Dabei gerät sie in Streit mit drei Männern und wird von ihnen brutalst zusammengeschlagen. Erschlagen, vermutet der Zuschauer, bis der Ehemann aus Deutschland eintrifft und seine Frau sucht. Von der Cousine erfährt er dann, dass Sibel mit einem anderen Mann zusammenlebt und ein Kind hat. Er trifft sich mit ihr und will sie und ihr Kind mitnehmen. Sie aber entscheidet sich für ihren neuen Mann und Cahit fährt allein weiter in sein Dorf.
Der Film ist beeindruckend und erschreckend zugleich. Er hat vieles von großen westlichen Regisseuren wie Bunuel, Godard oder Tarantino. Nur das Ende des Films erscheint auf den ersten Blick unlogisch, denn es ist nicht zu verstehen, warum Sibel nicht in Arbeit und Keuschheit auf ihren Mann wartet, sondern sich selbst zerstört. Aber das tut der großartigen Qualität des Films keinen Abbruch.
Vor allem in den Großaufnahmen der Gesichter zeigt der Regisseur, was bei ihm im Vordergrund steht: der Mensch und seine Gefühle, Leben und Tod, Liebe und Sex. Er hat eine große Liebe zu allen Menschen, den Rechtgläubigen wie den Sündern, ja, es scheint gar keine Sünde zu geben, sondern nur Irrende, suchende Menschen, nach Leben, nach Liebe, nach Erlösung. Gewalt, Mord und Totschlag, Liebe, Glauben, Pflichterfüllung sind nicht so sehr Gegenstände freier Entscheidung, sondern Rituale der ins Leben hineingeworfenen Menschen. Sie handeln nicht, sie werden gehandelt. Sie haben keine Schuld. Es geschieht mit ihnen. Der Film wertet nicht.
GEGEN DIE WAND ist vordergründig ein erstaunlich westlicher Film. Erst in zweiter Sicht sieht man, dass es auch ein zutiefst türkischer Film ist. Denn unter den großartigen Bildern liegt die unausgesprochene Botschaft, dass die Hauptdarsteller mit ihrem westlichen Leben nicht klarkommen. Beide wollen ihre türkische Identität vollkommen abstreifen und beide scheitern. Das westliche Leben in Freiheit zeigt nur eine Perspektive: Saufen und Ficken, von einem Rausch in den nächsten fallen. Dagegen stehen die konservativen Türken, die ihre Identität nicht aufgeben wollen, türkisch bleiben und sich gegenseitig in der Not helfen. Auf der westlichen Seite das Flüchtige, auf der östlichen Seite das Beständige. Das Aufrechterhalten der wahren menschlichen Werte wie Liebe, Treue, Nächstenliebe. Auch die orthodoxen westlichen Türken haben ihre Probleme und ihre Doppelmoral, aber man weiß nicht genau, ob diese aus menschlicher Schwäche resultieren oder aus dem schlechten Einfluß des Westens. Die Botschaft von Cahit und Sibel heißt: entweder du wirst türkisch oder du stirbst. Der schlechte Einfluß des Westens reicht bis in die Türkei, die auch schlechtes Westfernsehen, Drogendealer und Hurerei kennt. Selbst der vor jedem Kapitel eingespielte Trailer mit türkischer Volksmusik spiegelt die Sehnsucht nach türkischer Identität wider. Aber auch der Trailer zeigt eine falsche, da westlich verkitschte Identität. Nur einmal zerreißt der Vorhang des falschen Westens wie im Tempel von Jerusalem, als ein türkischer Busfahrer die beiden Volltrunkenen in Hamburg aus dem Bus wirft. So dürfen sich Türken nicht benehmen, ruft er ihnen wie der strafende Allah zu.
Der Film kennt keine Gnade. Sibel muß ihre westliche Identität vollkommen abstreifen. Als ihr das nicht gelingt und sie sich in einer Kneipe besinnungslos besäuft, wird sie erst vom Wirt geschändet und dann von drei Männern fast zu Tode geprügelt. Erst dadurch kann Sibel ihre westliche Identität vollkommen abstreifen. Die wiederauferstandene Sibel hat sich dann in ihr östliches Schicksal gefügt. Sie ist pflichtbewusst und arbeitsam geworden. Auch Cahit muß in die Türkei zurückkehren, um zu sich selbst zurückzufinden. Daß Sibel ihren alten Ehemann noch einmal aufsucht, ist nur noch ein heiliges Ritual. Ein nachträglicher Vollzug ihrer neuen Identität und die Ablösung der alten. Jeder lebt neu auferstanden weiter, getreu dem Koran, dass Allah die Ungläubigen tötet und nur die Gläubigen mit ewigem Leben belohnt.
So gibt der Film zur Integration nur eine Antwort: Es gibt keine.